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Programme und Materialien für den Mathematikunterricht

Paris-Brest-Paris 2015

Paris-Brest-Paris 2015

Die meisten Bilder wurden dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von
Matthew Scholes (UK)

Bild Nr. 5 von Maindru-Photo

Bilder Nrn. 11 - 13 aus der Fotostory bei Strava

(Fotos zum Vergrößern anklicken.)

Dass Randon­neure eine spezielle Spezies sind, ist bereits in vielen Erlebnis­berichten beschrieben worden. Sie scheinen aber auch ganz spezielle Kommuni­kations­wege zu benutzen. Ich sitze am Sonntag, den 16. August 2015 um 14 Uhr auf der Terrasse eines Lokals in Saint-Quentin-en-Yvelines bei Versailles südwestlich von Paris. Ich erinnere mich an den Moment exakt vor vier Jahren, als ich auch zwei Stunden vor dem Start zusammen mit Stutz an derselben Stelle saß und die letzten Kohlehydrate vor Paris-Brest-Paris einwarf. Ich zücke gerade mein Handy um meinem Randonneur-Kumpel aus Hofsgrund, der dieses Mal nicht dabei ist, eine SMS zu schreiben, aber meine Nudeln werden gerade serviert, so dass ich das von mir eher vernachlässigte Gerät zur Seite lege. Bei der ersten Gabel Pasta gibt mein topaktuelles Simvalley XP-45 einen Laut von sich. Eine SMS von Stutz: "Gute Reise wünsche ich Dir!" Das war die erste Nachricht von ihm seit Monaten just in dem Moment, an dem ich an ihn gedacht habe. Ist es Zufall, dass er das Wort Reise benutzt? Er kann nicht wissen, dass beim Treffen der deutschen Randonneure am Vortag Friedhelm Lixenfeld bei seinen Tipps an die ca. 400 anwesenden Randonneure (womit die weiblichen Teilnehmer selbstverständlich auch gemeint sind) sagte: "Einige lernen's nie, die wollen immer nur rasen, aber nie mal reisen ... Wenn Ihr wissen wollt wie man's macht: Nicht so doll rasen, sondern reisen, genießen, Freude haben!" Eine Aussage, an die ich seither immer wieder denken muss. Friedhelm ist der älteste Teilnehmer und tritt im Alter von 84 Jahren an, zum vierten Mal Paris-Brest-Paris im Zeitlimit von 90 Stunden zu schaffen.
    Eines ist sicher: Mobilfunkbetreiber könnten nicht existieren, wenn die Menschheit nur aus Randonneuren bestünde. Kommunikativere Menschen (die zum Teil eher Sklaven der Kommunikation über Handgeräte sind) können nicht verstehen, wie ich mich Tags zuvor zu einem so großen Event aufmache ohne zu wissen, wie meine Radkollegen aus der Gegend da hinkommen.
Akkreditierung im Velodrome National (©Matthew Scholes) Akkreditierung im Velodrome National (©Matthew Scholes)
Manche Menschen sind eben Eigenbrödler, besonders wenn zwei Gene zusam­men­kommen: Randonneur und Schwarz­wälder! Mir reicht es völlig zu wissen, dass wir uns beim Treffen der Deutschen schon über den Weg laufen würden. Und wenn nicht, tut das dem Ganzen auch keinen Abbruch. Doch es kommt ganz anders. Ich treffe Urban und Walter noch am Bahnsteig in Freiburg, denn wir haben alle denselben TGV gebucht - jede Kommunikation darüber im Vorfeld wäre also Energieverschwendung gewesen.
    Beim Plausch im Zug stellt sich heraus, dass sowieso jeder eine andere Strategie verfolgt und es eigentlich unsinnig ist, vorher zu planen mit wem man das Brevet fährt, besonders wenn Kommunikation eine untergeordnete Rolle spielt. Da ich letztes Jahr mit dem Mille du Sud ein 1000er-Brevet absolviert hatte, konnte ich mich zum frühestmöglichen Zeitpunkt registrieren und mir die Startgruppe auswählen. Ich wählte bewusst die erste Startgruppe (deswegen das A in meiner Startnummer) am Sonntag um 16 Uhr, denn ich wollte so früh wie möglich starten, um die Fahrzeit in der gefürchteten dritten Nacht zu minimieren. Die einzige Gefahr würde nur darin bestehen, sich von den ambitionierten Spitzenfahrern (bei denen ein Großteil mit eigenen Begleitfahrzeugen unterwegs ist) allzu sehr zum Rasen hinreißen zu lassen.

Con­trôle

Km

Temps

Pass­age

Moy­enne
tronçon

Moy­enne
Totale

START

0 km

16/08 16:01

VILL­AINES

221 km

06:32 h

16/08 22:33

33.8 km/h

33.8 km/h

Die Durchschnittsgeschwindigkeit von 30 km/h stellt für uns Rennradfahrer einen besonderen Wert dar. Eine höhere Geschwindigkeit gilt insbesondere bei nicht flachem Gelände als richtig schnell. Die ersten 220 km mit einem 34-er-Schnitt zu fahren ist also ein deutliches Zeichen! Der Grund: Ich fahre bzw. rase die ersten Stunden in der Spitzengruppe, die aus ca. 150 teils sehr ambitionierten Radfahrern besteht. Das ist Tour de France-Feeling pur, inklusive Vorausfahrzeug, Begleitmotorräder und brenzlige Situationen bei unzähligen Kreisverkehren. Ich nehme mir die Vorgabe meines Radrenn­trainers von vor 30 Jahren zu Herzen und halte mich möglichst immer im vorderen Drittel des Feldes auf.

Einer der 360 Anstiege (©Matthew Scholes) Einer der 360 Anstiege (©Matthew Scholes)
Die Jungs ganz vorne leisten hervor­ragende Führungs­arbeit in einem ausge­sprochen konstanten und angenehmen Tempo. Lediglich an zwei Hügeln - auf der gesamten Strecke sollen es laut Wikipedia 360 Anstiege sein - muss ich ans Limit gehen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Nach 5 Stunden und 40 Minuten Fahrzeit erreiche ich die 200 km-Marke. Ich glaube ich bin eine solche Streckenlänge noch nie in so kurzer Zeit gefahren und mir ist klar, dass ich bis dahin dem Rasen verfallen bin, was mir aber unheimlich viel Spaß gemacht hat. Ich bin noch relativ entspannt und weiß, dass ich noch nicht überzogen habe. Da ich die obligatorische Leuchtweste nicht in einer Trikottasche transportiert habe, sondern diese in meiner Satteltasche verstaut ist, muss ich zum Anziehen anhalten und lasse die Gruppe ca. 15 km vor der Kontrollstelle fahren. Außerdem unterscheidet mich auch noch eine andere Tatsache von den wirklichen Rasern: Urinieren während der Fahrt, das geht für mich gar nicht!

Etappe nach

FOU­GE­RES

310 km

09:42 h

17/08 01:43

28.1 km/h

31.9 km/h

Für mich war im Vorfeld bereits klar, dass das Rasen in der Spitzengruppe nur ein kleiner Baustein meiner ganzen Tour sein würde, der aber auch seine Daseinsberechtigung hat. Dass ich das aber so problemlos mitmachen konnte ist ein Zeichen dafür, dass ich dieses Jahr einfach "gute Beine" habe. Durch die lange Zeit mit dem enorm hohen Tempo habe ich allerdings so viel Zeit herausgefahren, dass von hinten erst einmal nicht mehr viel nachkommt und so fahre ich in der ersten Nacht ca. 120 km ganz alleine. Da der Wind nur sehr schwach weht ist das kein Problem und es ist gut, mal mein eigenes Tempo fahren zu können. Auf der zweiten Hälfte dieser Etappe fährt mich die zweite größere Gruppe von hinten auf, so dass ich das Teilstück bis Fougeres in einem bravourösen 28-er-Schnitt bewältige. Ich hoffe nur, dass die Freunde, die zu Hause meine Durchgangszeiten live im Internet verfolgen, nicht den Fehler machen und denken, dass ich für das erste Viertel der Strecke auch genau ein Viertel der Gesamtzeit brauchen werde.

Fahrt durch die erste Nacht (©Maindru-photo www.maindruphoto.com) Fahrt durch die erste Nacht (©Maindru-photo www.maindruphoto.com)

TIN­TENI­AC

364 km

12:02 h

17/08 04:03

23.1 km/h

30.2 km/h

LOU­DE­AC

449 km

15:20 h

17/08 07:21

25.7 km/h

29.2 km/h

Die gut laufende recht große Gruppe zerfällt allerdings an der Kontrollstelle in Tinteniac. Das liegt unter anderem daran, dass einige Fahrer zwar die Kontrollstelle passieren um sich den obligatorischen Stempel ins Büchlein drücken zu lassen, aber keine Verpflegung aufnehmen, weil sie diese aus dem eigenen Begleitfahrzeug bekommen. Für mich wäre es total widersinnig, eine solche Strecke mit Muskelkraft zurücklegen zu können nur weil ein Begleitfahrzeug (mit mindestens zwei Fahrern) dabei ist. Das ist einerseits unnötig, weil es genug Verpflegung an den Kontrollstellen zu kaufen und an unzähligen Ständen der Anwohner zu bekommen gibt, und andererseits würde mich das eher belasten als beruhigen. Aber wenigstens die Fahrer mit Supportfahrzeug pflegen regelmäßige Kommunikation während dem Radfahren über Handy mit ihren Begleitpersonen - wofür es übrigens eine Stunde Zeitstrafe gibt, falls das von einem Offiziellen bemerkt wird. Ich werde aber niemanden verpfeifen, denn ich bin schon froh darüber, dass die unzähligen Begleitfahrzeuge nicht die gleiche Strecke benutzen dürfen wie wir Radfahrer.
    Der einzige Nachteil wenn man alleine unterwegs ist besteht darin, dass man bei einer Schwächephase auch gerne mal ins "Trödeln" verfällt. Aber vielleicht ist es auch gerade das was in einer solchen Situation notwendig ist, um das ganze Projekt nicht zu gefährden. Die vorher­gesag­ten 11°C werden zwar teilweise deutlich unterschritten, aber es ist alles in allem ein sehr angenehmes Fahren, auch mal in kleineren Gruppen. Die erste größere Pause lege ich frühmorgens in Loudeac ein, wo ich Sandwiches, Suppe und heiße Schokolade zu mir nehme. Bis dahin hatte ich mich nur mit Riegeln und Gels aus meiner Lenkertasche verpflegt.

CAR­HAIX

525 km

18:49 h

17/08 10:50

21.8 km/h

27.9 km/h

Da immer bei der Einfahrt in eine Kontrollstelle die Zeit gemessen wird, wirkt sich eine Pause negativ auf die Durchschnittsgeschwindigkeit der kommenden Etappe aus. Wegen der ca. einstündigen Pause in Loudeac, die zum Reisen einfach dazu gehört, wird also auf der Etappe nach Carhaix nur 21,8 km/h angezeigt. Außerdem ist diese Etappe gespickt mit besonders anspruchsvollen Anstiegen. Auch wenn wir dabei nie die Meereshöhe von Freiburg erreichen, kann man besonders wegen der bereits fast 500 Kilometer in den Beinen durchaus von "Bergen" sprechen. Diese wellige Etappe mit fast 800 Höhenmetern meistere ich zum großen Teil zusammen mit zwei sehr erfahrenen Franzosen aus der Ü-60-Fraktion. Wir fahren zu dritt ca. 60 Kilometer lang zusammen, wobei jeder Führungen von jeweils einem Kilometer Länge und dabei die Verantwortung für das Tempo und die Sicherheit der anderen übernimmt. Sprachliche Kommunikation findet dabei nicht statt. Wozu auch?

Anfeuerungsrufe an der Strecke: "Bon courage" (©Matthew Scholes) Anfeuerungsrufe an der Strecke: "Bon courage" (©Matthew Scholes)

BREST

618 km

22:16 h

17/08 14:17

26.9 km/h

27.7 km/h

Den ersten Teil der letzten Etappe vor Brest bei angenehmen 20°C und Sonnenschein fahre ich wieder alleine. Gerade als ich das Alleinefahren satt habe freue ich mich, dass mich eine Gruppe Schweden auffährt, der ich mich bis Brest anschließe, das ich nach etwas mehr als 22 Stunden erreiche. Damit bin ich in etwa gleich schnell wie bei der letzten Austragung vor vier Jahren wo meine Gesamtzeit 56,5 Stunden betrug. Das bedeutet, dass ich meinem Ziel von 60 Stunden wieder einen ganz großen Schritt näher gekommen bin. Ich weiß aber auch, dass ein Erreichen dieses Zieles von sehr vielen Faktoren abhängt und problemlos von einer vermeintlichen Kleinigkeit gefährdet werden kann. Beim Reisen spielt die Zeit aber gar keine Rolle und das Zeitlimit für meine Startgruppe beträgt ja schließlich 80 Stunden, was sich wie ein sicheres Polster anfühlt. Im Gegensatz zum letzten Mal habe ich dieses Jahr die Ballance zwischen rasen und reisen besser im Griff und fühle mich deutlich besser mit erheblich mehr Reserven als bei meinem ersten Mal.

Auch wenn ich mich gut fühle weiß ich, dass es jetzt Zeit ist für etwas Revitali­sierung, an was mich das französische Wort "Ravi­taille­ment" immer erinnert. Die Verpfle­gungs­stelle in Brest ist noch wie aus­ge­stor­ben und die Zahl der immer freundlichen Helfer übersteigt die der zu Verpflegenden um ein Mehrfaches. Das liegt daran, dass wohl noch keine 200 Fahrer hier vorbei gekommen sind, dass aber die meisten nur vorbeigeflogen sind. Das Wort "Ravitaillement" wird schließlich auch für "Luftbetankung" verwendet. Es ist schon phänomenal wie akribisch die Kontroll- und Verpflegungsstellen organisiert und strukturiert sind. Die Fahrradparkplätze sind oft (gefühlt) mehrere Hundert Meter von den Kontrollstellen entfernt und die Fußmärsche dorthin werden geleitet durch übersichtliche Symbole, die die festgelegten Bewegungsrichtungen anzeigen. Wenn kaum jemand da ist empfindet man sogar als Deutscher das Ganze ziemlich übertrieben. Befinden sich im Hauptpulk aber vielleicht mal an die 1000 Sportler an einer solchen Stelle, ist eine gute Organisation zwingende Voraussetzung für ein gutes Gelingen.
    Ich labe mich am Standardmenü aus Nudeln und Fleisch und genieße das Reisen mit Bier und Kaffee. Müde bin ich eigentlich überhaupt nicht, obwohl ich nun schon seit 30 Stunden nicht mehr geschlafen habe. Trotzdem lege ich den Kopf auf den Tisch und genieße eine Viertelstunde Powernapping in einer sagenhaften Ruhe in der Halle, von der hier in ein paar Stunden sicher nicht mehr viel übrig sein wird.

Flaggen aller Nationalitäten an der Kontrollstelle in Carhaix-Plouguer (©Matthew Scholes) Flaggen aller Nationalitäten an der Kontrollstelle in Carhaix-Plouguer (©Matthew Scholes)

CAR­HAIX

703 km

27:02 h

17/08 19:03

17.8 km/h

26 km/h

LOU­DEAC

782 km

30:33 h

17/08 22:34

22.4 km/h

25.5 km/h

Die 1,5 Stunden dauernde Pause in Brest zeigt sich in der Durchschnittsgeschwindigkeit der folgenden Etappe, die erstmalig unter 20 km/h fällt. Was in der Bretagne einfach faszinierend ist, ist die Tatsache, dass man hinauf zum höchsten Berg, dem Roc'h Trévezel 20 km lang bergauf fährt um dann eine Meereshöhe erreicht zu haben, die gerade mal der des Bodensees entspricht. Zum moderat steigenden Profil gesellt sich aber jetzt deutlicher Gegenwind, der den Berg irgendwie ins Alpine wachsen lässt. Ich habe das Glück, noch in der Ebene zu einem phänomenal starken Franzosen aufzuschließen, der mich mit einigen anderen in unbeschreiblich ruhiger Fahrweise auf den Gipfel hinauf zieht. Er fährt so konstant, dass es unmöglich ist, die Führung zu übernehmen, aber das scheint er auch nicht zu erwarten.

Nach dem zweiten Sonnen­unter­gang dieser Tour erreiche ich Loudeac, wo ich wieder eine längere Pause einlegen will, weil mir die Suppe und die Sandwiches vom Frühstück noch in so guter Erinnerung sind. Dort ist dann aber die Hölle los weil das Hauptfeld der Startgruppe, die am Montagmorgen gestartet war, mir genau hier entgegen kommt. So muss ich mich mit längeren Wartezeiten bei der Verpflegungs­ausgabe abfinden. Die vielen freundlichen Helfer sind sehr bemüht, aber die Effektivität hätte man mit einer leichten Veränderung deutlich steigern können. Wegen meinem mangelhaften Französisch behalte ich meinen Optimierungs­vorschlag allerdings lieber bei mir. Eigentlich hatte ich mir auch vorgenommen, hier eine kurze Schlafpause einzulegen, aber der Schlafsaal mit mehr als 100 schnarchenden Randonneuren (und noch schlimmer: Mehr als 200 ausgezogenen Radschuhen), die sich noch auf dem Hinweg befinden, scheint mir keine gute Alternative zu sein. Auch der Versuch eines erneuten Viertelstündigen Powernappings scheitert an der Hektik in der Verpflegungsstelle. Es ist aber auch zu spannend zu beobachten, wie sich doch die Befindlichkeiten der Japanischen, Russischen, Australischen, Brasilianischen Randonneuren - und woher sie auch sonst noch alle kommen mögen - gleichen: Alle begehren Trinken, Essen und Wärme. Ich fühle mich noch recht gut und wage warm in Arm- und Beinlinge eingepackt die nächste Etappe über 85 km.

In der Einsamkeit der Nacht (externer Link ©Strava http://stories.strava.com/parisbrestparis)

TIN­TEN­IAC

867 km

37:14 h

18/08 05:15

12.7 km/h

23.2 km/h

Bereits nach 20 km bin ich mir allerdings sehr unsicher, ob das nicht ein Fehler war, denn ab da ist die Müdigkeit das bestimmende Thema. Jeder zweite Atemzug ist ein herzerweichendes Gähnen und ich weiß nicht wie lang das noch gut geht. In den Beinen geht nicht mehr viel und die Kilometersteine scheinen so weit auseinander zu sein wie nie zuvor. Meinen beiden Begleitern, einem Engländer und einem Italiener, geht es genauso und aufmunternde Kommunikation will auch nicht wirklich aufkommen. Bei einem Wohnmobil eines anderen Fahrers bleibt der Italiener zurück. Die unruhigen Lichtkegel unserer superhellen Scheinwerfer zaubern die aberwitzigsten Figuren auf die Straße.

Die Tiere die ich sehe, die in Wahrheit aber eigentlich nur Sträucher oder Teerflecken auf der Straße sind, ergäben einen höchst­interessanten Zoo. Diese Art von Hallu­zinationen sind im Nachhinein zwar witzig, aber währenddessen doch nur ein Zeichen von totaler Erschöpfung. Andreas Herrmann, ein Randonneur aus Tübingen, gab eine Woche zuvor im Schwäbischen Tagblatt zu diesem Thema folgenden Satz zum Besten: "Da setzt der Körper Drogen frei, die es nirgendwo zu kaufen gibt."
    Zum Glück kommt es nicht so weit, dass Sekundenschlaf zu befürchten ist, denn dann hätte ich sofort reagieren und vom Rad steigen müssen. Die nicht wenigen Kollegen, deren Leuchtwesten man im Wald, am Straßenrand oder in einer der wenigen Ortschaften liegend sieht, zeigt uns, dass wir nicht die einzigen übermüdeten Fahrer sind. Bei Temperaturen von 6°C und teilweise Bodennebel kann man von erholsamen Schlaf im Freien aber sicher nicht sprechen. Jedenfalls entscheide ich in diesem Moment definitiv, dass ich mir so etwas nie wieder antun werde! Ich weiß nicht wie, aber irgendwie erreiche ich mit meinem Schwarzwälder Dickkopf in einem Tranceartigen Zustand die Kontrollstelle in Tinteniac. Und plötzlich scheint diese Entscheidung nicht mehr so ausschließlich gültig zu sein.

Ungefähr so schlafe ich eine Stunde lang. (externer Link ©Strava http://stories.strava.com/parisbrestparis)

Das Zeitlimit in Tinteniac für die am Montag gestarteten Fahrer ist gerade abgelaufen und niemand mehr kommt mir entgegen. Die Kontrollstelle ist deshalb wieder wie ausgestorben und ich finde in der großen fast menschenleeren Verpflegungshalle in einer Ecke auf einem Teppichboden einen ruhigen Schlafplatz. Hier regeneriere ich in einem erholsamen Schlaf mehr als eine Stunde lang. Obwohl es in der Halle nicht kalt ist friere ich ziemlich, denn die Klamotten sind vom Schwitzen und vom Nebel recht feucht. Mit meiner raschelnden Rettungsgdecke wollte ich mir und einigen anderen Kollegen den wohlverdienten Schlaf aber nicht gefährden. Ich zittere am ganzen Körper und es kostet mich schon große Überwindung aufzustehen und mich wieder in die Kälte zu begeben. Ich bin kaum in der Lage, den Becher so ruhig zu halten, dass mir der heiße Kaffee nicht über die Hände läuft. Die Kontaktschleife überquere ich mit meinem Transponder erst nach der Schlafpause, so dass die Geschwindigkeit der zurückliegenden Etappe nur bei 12,7 km/h liegt, aber davon bekomme ich nichts mit und Zahlen sind das, was mich jetzt am allerwenigsten interessiert.

FOU­GE­RES

921 km

39:32 h

18/08 07:33

23.4 km/h

23.2 km/h

Ein Reiz solcher Veranstaltungen ist, wie eng doch kritische und euphorische Phasen beieinander liegen können. Der einstündige Schlaf und der Kaffee bewirken, dass die Beine wieder wie ein Uhrwerk laufen und der Sonnenaufgang erhellt meine Stimmung völlig. Ich fahre alleine ein sehr gutes Tempo und die vielen Anstiege stellen überhaupt kein Problem war. Ich fühle mich unsterblich und begeistere mich an der Tatsache wie kraftvoll ich immer noch in die Pedale treten kann. Zwei Deutsche, die sich am Straßenrand hingelegt hatten und wohl auf Anschlusssuche sind, fragen mich, ob ich denn langsam fahren würde. Meine kalte Antwort: "Nö", denn ich habe keine Lust zu warten bis sie denn abfahrtbereit wären.
    Eines der Dinge, die ich gegenüber dem letzten Mal besser machen wollte, ist weniger Kaffee und Cola zu trinken. Aber die Croissants in Fougeres sehen so verlockend aus, dass ich nicht widerstehen kann, denn halb acht ist allerbeste Frühstückszeit. Schließlich bin ich ja am Reisen. Mein Magen wagt nicht dagegen aufzubegehren - scheinbar tun die Kautabletten gegen Sodbrennen auch in der Lenkertasche ihr Gutes.

Immer wieder tolle Motive an der Strecke (©Matthew Scholes) Immer wieder tolle Motive an der Strecke (©Matthew Scholes)

VIL­LAI­NES

1009 km

43:49 h

18/08 11:50

20.5 km/h

23 km/h

MOR­TAG­NE

1090 km

47:14 h

18/08 15:15

23.7 km/h

23 km/h

Nach Fougeres holt mich eine tolle Gruppe aus vier Fahrern ein. Einer der beiden Dänen ist ein Bär und ich bin mir sicher, mit diesen Jungs problemlos das Ziel erreichen zu können. Aber auf 300 Kilometern kann viel passieren! Bei mir ist das ein gerissener Schaltzug. Wohl der einzige Fehler der Tour ist, dass mir der Anschluss zu dieser Gruppe wichtiger ist als meinen Körper im Blick zu haben und mich mit dem technischen Malheur abzufinden. So fahre ich zu lange ohne hintere Schaltung (die ich auf dem drittkleinsten Ritzel arretiere), denn ich will es noch 30 km bis zum nächsten Serviceposten schaffen. Als klar ist, dass es nicht sehr vernünftig ist, die größte Zeit in unpassenden Gängen zu fahren, entscheide ich mich für eine Reparatur. Ich will nicht, dass die anderen warten und schicke sie wieder los. Ich fühle mich so gut, dass ich weiß, dass ich die Zeit locker wieder heraus fahren kann. Beim Zufahren der Lücke von ca. 5 Minuten mache ich dann aber den Fehler zu überziehen. Ich erreiche die Mitstreiter zwar problemlos noch vor der Kontrolle in Villaines, aber vor allem das kräftezehrende Schnellfahren bergauf sollte sich in Kürze rächen.

Die vorletzte Etappe wird dann doch wieder zur Quälerei. Schmerzen an den Händen, Füßen und Sitz­be­schwer­den mischen sich zu müden Muskeln in den Beinen und Oberarmen, die durch das häufige Fahren im Wiegetritt auch schon auf sich aufmerksam machen. Meinen Begleitern, einem Dänen und einem Engländer, scheint es nicht anders zu gehen. Ich weiß es aber nicht, denn wir haben keine Lust miteinander zu reden. Ich interessiere mich nicht mal für die Namen meiner Leidensgenossen, obwohl diese ja auf den Rahmennummern stehen. Ich begnüge mich eigentlich immer nur damit zu erfahren, welcher Nationalität meine Mitstreiter sind. Den Namen des "Engländers mit den Scheibenbremsen" erfahre ich erst Tage später, als er mir freundlicherweise seine Bilder schickt mit der Erlaubnis, sie in meinem Bericht zu verwenden.

Speziell umgestalteter Kilometerstein (©Matthew Scholes) Speziell umgestalteter Kilometerstein (©Matthew Scholes)

Kurz vor der Kontrolle in Mortagne au Perche sind wir wieder eine sehr gute Gruppe unter anderem mit fünf erfahrenen Randon­neuren aus San Francisco. Auf einmal läuft es wieder besser. Nun stehe ich vor der Entscheidung, meine überstandene Schwächephase ernst zu nehmen, zu reisen und mich wie geplant in Mortagne zu verpflegen, oder mit den Jungs mitzurasen, die ins Ziel durchfahren wollen. Sie haben sich vorgenommen, dieses um 21 Uhr zu erreichen. In Anbetracht der nicht unwesentlichen 140 km, die noch zu absolvieren sind, entscheide ich mich für die vernünftigere reisende Variante: Eine Pause mit Cola, Bier und hervorragenden Spaghetti Bolognese in einer riesengroßen menschenleeren Halle, die auf den Ansturm der 6000 Radfahrer auf dem Rückweg förmlich wartet.

DREUX

1165 km

51:00 h

18/08 19:01

19.9 km/h

22.8 km/h

Ich bin mir sicher, dass von hinten bald wieder eine Gruppe kommt. Doch das sollte sich als Trugschluss heraus stellen. Deshalb fahre ich auch die letzten 140 km wieder ganz alleine in meinem Tempo, was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss. Nur der Wind, der einige flache Kilometer sehr beschwerlich werden lässt, wäre in einer Gruppe sicher erträglicher. Das letzte Teilstück durch unendlich weite Getreidefelder und klitzekleine Weiler, die jeweils mehr als zehn Kilometer auseinander liegen, ist richtige Fleißarbeit. Auf dem Streckenplan ist das das längste Teilstück: Eine Straße von 32 km Länge, die mit ihrem rauen Asphalt meine Willensstärke bis auf das Äußerste strapaziert. Aber irgendwie schaffe ich es, das Tempo so hoch zu halten, dass mich keine Gruppe einholen kann.

FI­NISH

1230 km

53:49 h

18/08 21:50

23 km/h

22.8 km/h

Liebevoll geschmückte Symbole und eine der mehr als Tausend Streckenmarkierungen (©Matthew Scholes) Liebevoll geschmückte Symbole und eine der mehr als Tausend Streckenmarkierungen (©Matthew Scholes)

Ich kann es selbst kaum glauben, dass es auf der letzten Etappe, bei der es noch zwei richtig schwere Anstiege zu bewältigen gibt, wieder prima läuft und ich fast wieder unbeschwert rasen kann. Der Körper ist imstande, nach so langer Zeit immer noch diese Leistung (schätz­ungs­weise durchschnittlich mind. 200 W) zu erzielen und die Energie aus der aufgenommen Nahrung und abgebauten Köperfetten umzusetzen. Das zeigt doch, wie gut wir Menschen von Natur aus ausgestattet sind. An diesem dritten Abend stelle ich wieder vermehrte Halluzinationen fest. Jedes Verkehrsschild in der Ferne, jedes der vielen Schilder, die die Strecke markieren, jede Laterne und jeder Strauch am Wegesrand wird in meinem Gehirn erst mal als Randonneur identifiziert. Mal fahrend, mal liegend, mal an einer Mauer lehnend. Mir scheint es zu gehen wie dem Verdurstenden in der Wüste, der sich in der Fata Morgana die rettende Oase vorstellt. Ein Psychologe würde dieses Phänomen vielleicht Tagträume nennen. Für mich ist es ein Zeichen dafür, dass es gut ist, dass ich nicht noch eine weitere Nacht auf dem Rad sitzen muss.
    Die letzten 10 km mit Tageslicht stellt sich ein heimischer Rennradfahrer, der auch auf einem Wilier-Carbonrad auf einer Trainingstour unterwegs ist, in meine Dienste und bietet mir Windschatten über die Hügel kurz vor Versailles. Das Finish im Dunkeln erlebe ich wie in Trance und erreiche um 21.50 Uhr das ersehnte Ziel am Velodrome in Saint Quentin. Ich glaube es kaum, dass ich die tolle Zeit vom letzten Mal um 2,5 Stunden unterboten habe. Dass es diese Saison besonders gut läuft, weiß ich aber schon länger und so denke ich, dass die 54 Stunden für mich die Zeit ist, die das Maximum meiner Leistungsfähigkeit darstellt. Laut inoffizieller Ergebnisliste (Platz 110 von 6052) gehöre ich damit zu den schnellsten 2% aller Teilnehmer, worüber ich sehr stolz bin. Offiziell ist Paris-Brest-Paris ja kein Rennen, aber eine Veranstaltung mit Zeitnahme hat ja auch immer den Aspekt des Ehrgeizes. Ich weiß, dass ich aber auch mit 60 Stunden oder mehr zufrieden gewesen wäre, denn es kann ja sehr viel dazwischen kommen. Etliche meiner Kollegen mussten aus welchen Gründen auch immer abbrechen oder haben deutlich länger gebraucht als das letzte Mal, aber dieses Risiko fährt natürlich auch immer mit.

Die 60 Stunden stellen eine gewisse Schallmauer dar. Vielleicht ist das für manche die Grenze zwischen rasen und reisen. Als ehemals aktiver Radrenn­fahrer stehe ich natürlich zum Rasen, wobei es für mich ohne das Reisen aber auch nicht funktionieren kann. Durch das Rasen am Anfang, kurzzeitig in der Mitte und am Ende habe ich es aber geschafft, die beschwerliche Reise nicht unnötig zu verlängern und das hat für mich auf jeden Fall etwas Gutes.
    Nach mehr als zwölf Stunden Schlaf besuche ich am Mittwochabend dann noch Paris. In aller Ruhe reise ich dort alleine mit dem Zug hin, denn zum Radfahren habe ich irgendwie keine Lust mehr. Entsprechend meiner Leistung der letzten Tage halte ich einen Besuch des Arc de Triomphe für angemessen. Ich fühle mich so richtig auf der Reise als ich mit einem Rose aus der Provence eine Pizza auf der Wiese unter dem Eiffelturm genieße. Mit Hunderten anderen, die alle keine Radfahrer sind, erfreue ich mich an dem lauen Abend in der pulsierenden Großstadt. Als ich gegen Mitternacht wieder in meinem Hotel ankomme halte ich kurz inne, denn würde ich in diesem Moment im Ziel ankommen, hätte ich das Zeitlimit von 80 Stunden gerade noch geschafft. Das wäre für mich dann aber wohl eine sehr beschwerliche Reise gewesen.
    Alles in allem war das Unternehmen "Paris-Brest-Paris 2015" für mich ein tolles Erlebnis und ein voller Erfolg. Ich bin äußerst dankbar, dass mir Gott die Gabe gegeben hat, die es mir erlaubt, solch intensive Dinge zu erleben. Ich werde sicher noch lange davon zehren und Erfahrungen dieser Art werden mir sicher helfen, auch andere schwierige Situationen in meinem Alltag zu meistern.

Ein Video von Paris-Brest-Paris erscheint hier (hoffentlich) in Kürze...

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