Paris-Brest-Paris 2015
Die meisten Bilder wurden dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von
Matthew Scholes (UK)
Bild Nr. 5 von Maindru-Photo
Bilder Nrn. 11 - 13 aus der Fotostory bei Strava
(Fotos zum Vergrößern anklicken.)
Contrôle |
Km |
Temps |
Passage |
Moyenne |
Moyenne |
START |
0 km |
16/08 16:01 |
|||
VILLAINES |
221 km |
06:32 h |
16/08 22:33 |
33.8 km/h |
33.8 km/h |
Die Durchschnittsgeschwindigkeit von 30 km/h stellt für uns Rennradfahrer einen besonderen Wert dar. Eine höhere Geschwindigkeit gilt insbesondere bei nicht flachem Gelände als richtig schnell. Die ersten 220 km mit einem 34-er-Schnitt zu fahren ist also ein deutliches Zeichen! Der Grund: Ich fahre bzw. rase die ersten Stunden in der Spitzengruppe, die aus ca. 150 teils sehr ambitionierten Radfahrern besteht. Das ist Tour de France-Feeling pur, inklusive Vorausfahrzeug, Begleitmotorräder und brenzlige Situationen bei unzähligen Kreisverkehren. Ich nehme mir die Vorgabe meines Radrenntrainers von vor 30 Jahren zu Herzen und halte mich möglichst immer im vorderen Drittel des Feldes auf.
Etappe nach
FOUGERES |
310 km |
09:42 h |
17/08 01:43 |
28.1 km/h |
31.9 km/h |
Für mich war im Vorfeld bereits klar, dass das Rasen in der Spitzengruppe nur ein kleiner Baustein meiner ganzen Tour sein würde, der aber auch seine Daseinsberechtigung hat. Dass ich das aber so problemlos mitmachen konnte ist ein Zeichen dafür, dass ich dieses Jahr einfach "gute Beine" habe. Durch die lange Zeit mit dem enorm hohen Tempo habe ich allerdings so viel Zeit herausgefahren, dass von hinten erst einmal nicht mehr viel nachkommt und so fahre ich in der ersten Nacht ca. 120 km ganz alleine. Da der Wind nur sehr schwach weht ist das kein Problem und es ist gut, mal mein eigenes Tempo fahren zu können. Auf der zweiten Hälfte dieser Etappe fährt mich die zweite größere Gruppe von hinten auf, so dass ich das Teilstück bis Fougeres in einem bravourösen 28-er-Schnitt bewältige. Ich hoffe nur, dass die Freunde, die zu Hause meine Durchgangszeiten live im Internet verfolgen, nicht den Fehler machen und denken, dass ich für das erste Viertel der Strecke auch genau ein Viertel der Gesamtzeit brauchen werde.
TINTENIAC |
364 km |
12:02 h |
17/08 04:03 |
23.1 km/h |
30.2 km/h |
LOUDEAC |
449 km |
15:20 h |
17/08 07:21 |
25.7 km/h |
29.2 km/h |
Die gut laufende recht große Gruppe zerfällt allerdings an der Kontrollstelle in Tinteniac. Das liegt unter anderem daran, dass einige Fahrer zwar die Kontrollstelle passieren um sich den
obligatorischen Stempel ins Büchlein drücken zu lassen, aber keine Verpflegung aufnehmen, weil sie diese aus dem eigenen Begleitfahrzeug bekommen. Für mich wäre es total widersinnig, eine
solche Strecke mit Muskelkraft zurücklegen zu können nur weil ein Begleitfahrzeug (mit mindestens zwei Fahrern) dabei ist. Das ist einerseits unnötig, weil es genug Verpflegung an den
Kontrollstellen zu kaufen und an unzähligen Ständen der Anwohner zu bekommen gibt, und andererseits würde mich das eher belasten als beruhigen. Aber wenigstens die Fahrer mit Supportfahrzeug
pflegen regelmäßige Kommunikation während dem Radfahren über Handy mit ihren Begleitpersonen - wofür es übrigens eine Stunde Zeitstrafe gibt, falls das von einem Offiziellen bemerkt wird.
Ich werde aber niemanden verpfeifen, denn ich bin schon froh darüber, dass die unzähligen Begleitfahrzeuge nicht die gleiche Strecke benutzen dürfen wie wir Radfahrer.
Der einzige Nachteil wenn man alleine unterwegs ist besteht darin, dass man bei einer Schwächephase auch gerne mal ins "Trödeln" verfällt. Aber vielleicht ist es auch gerade das was in
einer solchen Situation notwendig ist, um das ganze Projekt nicht zu gefährden. Die vorhergesagten 11°C werden zwar teilweise deutlich unterschritten, aber es ist alles in allem ein sehr
angenehmes Fahren, auch mal in kleineren Gruppen. Die erste größere Pause lege ich frühmorgens in Loudeac ein, wo ich Sandwiches, Suppe und heiße Schokolade zu mir nehme. Bis dahin hatte
ich mich nur mit Riegeln und Gels aus meiner Lenkertasche verpflegt.
CARHAIX |
525 km |
18:49 h |
17/08 10:50 |
21.8 km/h |
27.9 km/h |
Da immer bei der Einfahrt in eine Kontrollstelle die Zeit gemessen wird, wirkt sich eine Pause negativ auf die Durchschnittsgeschwindigkeit der kommenden Etappe aus. Wegen der ca. einstündigen Pause in Loudeac, die zum Reisen einfach dazu gehört, wird also auf der Etappe nach Carhaix nur 21,8 km/h angezeigt. Außerdem ist diese Etappe gespickt mit besonders anspruchsvollen Anstiegen. Auch wenn wir dabei nie die Meereshöhe von Freiburg erreichen, kann man besonders wegen der bereits fast 500 Kilometer in den Beinen durchaus von "Bergen" sprechen. Diese wellige Etappe mit fast 800 Höhenmetern meistere ich zum großen Teil zusammen mit zwei sehr erfahrenen Franzosen aus der Ü-60-Fraktion. Wir fahren zu dritt ca. 60 Kilometer lang zusammen, wobei jeder Führungen von jeweils einem Kilometer Länge und dabei die Verantwortung für das Tempo und die Sicherheit der anderen übernimmt. Sprachliche Kommunikation findet dabei nicht statt. Wozu auch?
BREST |
618 km |
22:16 h |
17/08 14:17 |
26.9 km/h |
27.7 km/h |
Den ersten Teil der letzten Etappe vor Brest bei angenehmen 20°C und Sonnenschein fahre ich wieder alleine. Gerade als ich das Alleinefahren satt habe freue ich mich, dass mich eine Gruppe Schweden auffährt, der ich mich bis Brest anschließe, das ich nach etwas mehr als 22 Stunden erreiche. Damit bin ich in etwa gleich schnell wie bei der letzten Austragung vor vier Jahren wo meine Gesamtzeit 56,5 Stunden betrug. Das bedeutet, dass ich meinem Ziel von 60 Stunden wieder einen ganz großen Schritt näher gekommen bin. Ich weiß aber auch, dass ein Erreichen dieses Zieles von sehr vielen Faktoren abhängt und problemlos von einer vermeintlichen Kleinigkeit gefährdet werden kann. Beim Reisen spielt die Zeit aber gar keine Rolle und das Zeitlimit für meine Startgruppe beträgt ja schließlich 80 Stunden, was sich wie ein sicheres Polster anfühlt. Im Gegensatz zum letzten Mal habe ich dieses Jahr die Ballance zwischen rasen und reisen besser im Griff und fühle mich deutlich besser mit erheblich mehr Reserven als bei meinem ersten Mal.
Auch wenn ich mich gut fühle weiß ich, dass es jetzt Zeit ist für etwas Revitalisierung, an was mich das französische Wort "Ravitaillement" immer erinnert. Die Verpflegungsstelle in Brest ist noch
wie ausgestorben und die Zahl der immer freundlichen Helfer übersteigt die der zu Verpflegenden um ein Mehrfaches. Das liegt daran, dass wohl noch keine 200 Fahrer hier vorbei gekommen sind, dass
aber die meisten nur vorbeigeflogen sind. Das Wort "Ravitaillement" wird schließlich auch für "Luftbetankung" verwendet. Es ist schon phänomenal wie akribisch die Kontroll- und Verpflegungsstellen
organisiert und strukturiert sind. Die Fahrradparkplätze sind oft (gefühlt) mehrere Hundert Meter von den Kontrollstellen entfernt und die Fußmärsche dorthin werden geleitet durch übersichtliche
Symbole, die die festgelegten Bewegungsrichtungen anzeigen. Wenn kaum jemand da ist empfindet man sogar als Deutscher das Ganze ziemlich übertrieben. Befinden sich im Hauptpulk aber vielleicht
mal an die 1000 Sportler an einer solchen Stelle, ist eine gute Organisation zwingende Voraussetzung für ein gutes Gelingen.
Ich labe mich am Standardmenü aus Nudeln und Fleisch und genieße das Reisen mit Bier und Kaffee. Müde bin ich eigentlich überhaupt nicht, obwohl ich nun schon seit 30 Stunden nicht mehr geschlafen habe.
Trotzdem lege ich den Kopf auf den Tisch und genieße eine Viertelstunde Powernapping in einer sagenhaften Ruhe in der Halle, von der hier in ein paar Stunden sicher nicht mehr viel übrig sein wird.
CARHAIX |
703 km |
27:02 h |
17/08 19:03 |
17.8 km/h |
26 km/h |
LOUDEAC |
782 km |
30:33 h |
17/08 22:34 |
22.4 km/h |
25.5 km/h |
Die 1,5 Stunden dauernde Pause in Brest zeigt sich in der Durchschnittsgeschwindigkeit der folgenden Etappe, die erstmalig unter 20 km/h fällt. Was in der Bretagne einfach faszinierend ist, ist die Tatsache, dass man hinauf zum höchsten Berg, dem Roc'h Trévezel 20 km lang bergauf fährt um dann eine Meereshöhe erreicht zu haben, die gerade mal der des Bodensees entspricht. Zum moderat steigenden Profil gesellt sich aber jetzt deutlicher Gegenwind, der den Berg irgendwie ins Alpine wachsen lässt. Ich habe das Glück, noch in der Ebene zu einem phänomenal starken Franzosen aufzuschließen, der mich mit einigen anderen in unbeschreiblich ruhiger Fahrweise auf den Gipfel hinauf zieht. Er fährt so konstant, dass es unmöglich ist, die Führung zu übernehmen, aber das scheint er auch nicht zu erwarten.
Nach dem zweiten Sonnenuntergang dieser Tour erreiche ich Loudeac, wo ich wieder eine längere Pause einlegen will, weil mir die Suppe und die Sandwiches vom Frühstück noch in so guter Erinnerung sind. Dort ist dann aber die Hölle los weil das Hauptfeld der Startgruppe, die am Montagmorgen gestartet war, mir genau hier entgegen kommt. So muss ich mich mit längeren Wartezeiten bei der Verpflegungsausgabe abfinden. Die vielen freundlichen Helfer sind sehr bemüht, aber die Effektivität hätte man mit einer leichten Veränderung deutlich steigern können. Wegen meinem mangelhaften Französisch behalte ich meinen Optimierungsvorschlag allerdings lieber bei mir. Eigentlich hatte ich mir auch vorgenommen, hier eine kurze Schlafpause einzulegen, aber der Schlafsaal mit mehr als 100 schnarchenden Randonneuren (und noch schlimmer: Mehr als 200 ausgezogenen Radschuhen), die sich noch auf dem Hinweg befinden, scheint mir keine gute Alternative zu sein. Auch der Versuch eines erneuten Viertelstündigen Powernappings scheitert an der Hektik in der Verpflegungsstelle. Es ist aber auch zu spannend zu beobachten, wie sich doch die Befindlichkeiten der Japanischen, Russischen, Australischen, Brasilianischen Randonneuren - und woher sie auch sonst noch alle kommen mögen - gleichen: Alle begehren Trinken, Essen und Wärme. Ich fühle mich noch recht gut und wage warm in Arm- und Beinlinge eingepackt die nächste Etappe über 85 km.
TINTENIAC |
867 km |
37:14 h |
18/08 05:15 |
12.7 km/h |
23.2 km/h |
Bereits nach 20 km bin ich mir allerdings sehr unsicher, ob das nicht ein Fehler war, denn ab da ist die Müdigkeit das bestimmende Thema. Jeder zweite Atemzug ist ein herzerweichendes Gähnen und ich weiß nicht wie lang das noch gut geht. In den Beinen geht nicht mehr viel und die Kilometersteine scheinen so weit auseinander zu sein wie nie zuvor. Meinen beiden Begleitern, einem Engländer und einem Italiener, geht es genauso und aufmunternde Kommunikation will auch nicht wirklich aufkommen. Bei einem Wohnmobil eines anderen Fahrers bleibt der Italiener zurück. Die unruhigen Lichtkegel unserer superhellen Scheinwerfer zaubern die aberwitzigsten Figuren auf die Straße.
Die Tiere die ich sehe, die in Wahrheit aber eigentlich nur Sträucher oder Teerflecken auf der Straße sind, ergäben einen
höchstinteressanten Zoo. Diese Art von Halluzinationen sind im Nachhinein zwar witzig, aber währenddessen doch nur ein Zeichen von totaler Erschöpfung. Andreas Herrmann, ein Randonneur aus Tübingen,
gab eine Woche zuvor im Schwäbischen Tagblatt zu diesem Thema folgenden Satz zum Besten: "Da setzt der Körper Drogen frei, die es nirgendwo zu kaufen gibt."
Zum Glück kommt es nicht so weit, dass Sekundenschlaf zu befürchten ist, denn dann hätte ich sofort reagieren und vom Rad steigen müssen. Die nicht wenigen Kollegen, deren Leuchtwesten man im Wald,
am Straßenrand oder in einer der wenigen Ortschaften liegend sieht, zeigt uns, dass wir nicht die einzigen übermüdeten Fahrer sind. Bei Temperaturen von 6°C und teilweise Bodennebel kann man von
erholsamen Schlaf im Freien aber sicher nicht sprechen. Jedenfalls entscheide ich in diesem Moment definitiv, dass ich mir so etwas nie wieder antun werde! Ich weiß nicht wie, aber irgendwie
erreiche ich mit meinem Schwarzwälder Dickkopf in einem Tranceartigen Zustand die Kontrollstelle in Tinteniac. Und plötzlich scheint diese Entscheidung nicht mehr so ausschließlich gültig zu sein.
Das Zeitlimit in Tinteniac für die am Montag gestarteten Fahrer ist gerade abgelaufen und niemand mehr kommt mir entgegen. Die Kontrollstelle ist deshalb wieder wie ausgestorben und ich finde in der großen fast menschenleeren Verpflegungshalle in einer Ecke auf einem Teppichboden einen ruhigen Schlafplatz. Hier regeneriere ich in einem erholsamen Schlaf mehr als eine Stunde lang. Obwohl es in der Halle nicht kalt ist friere ich ziemlich, denn die Klamotten sind vom Schwitzen und vom Nebel recht feucht. Mit meiner raschelnden Rettungsgdecke wollte ich mir und einigen anderen Kollegen den wohlverdienten Schlaf aber nicht gefährden. Ich zittere am ganzen Körper und es kostet mich schon große Überwindung aufzustehen und mich wieder in die Kälte zu begeben. Ich bin kaum in der Lage, den Becher so ruhig zu halten, dass mir der heiße Kaffee nicht über die Hände läuft. Die Kontaktschleife überquere ich mit meinem Transponder erst nach der Schlafpause, so dass die Geschwindigkeit der zurückliegenden Etappe nur bei 12,7 km/h liegt, aber davon bekomme ich nichts mit und Zahlen sind das, was mich jetzt am allerwenigsten interessiert.
FOUGERES |
921 km |
39:32 h |
18/08 07:33 |
23.4 km/h |
23.2 km/h |
Ein Reiz solcher Veranstaltungen ist, wie eng doch kritische und euphorische Phasen beieinander liegen können. Der einstündige Schlaf und der Kaffee bewirken, dass die Beine wieder wie ein Uhrwerk laufen
und der Sonnenaufgang erhellt meine Stimmung völlig. Ich fahre alleine ein sehr gutes Tempo und die vielen Anstiege stellen überhaupt kein Problem war. Ich fühle mich unsterblich und begeistere mich an
der Tatsache wie kraftvoll ich immer noch in die Pedale treten kann. Zwei Deutsche, die sich am Straßenrand hingelegt hatten und wohl auf Anschlusssuche sind, fragen mich, ob ich denn langsam fahren würde.
Meine kalte Antwort: "Nö", denn ich habe keine Lust zu warten bis sie denn abfahrtbereit wären.
Eines der Dinge, die ich gegenüber dem letzten Mal besser machen wollte, ist weniger Kaffee und Cola zu trinken. Aber die Croissants in Fougeres sehen so verlockend aus, dass ich nicht widerstehen kann,
denn halb acht ist allerbeste Frühstückszeit. Schließlich bin ich ja am Reisen. Mein Magen wagt nicht dagegen aufzubegehren - scheinbar tun die Kautabletten gegen Sodbrennen auch in der Lenkertasche ihr Gutes.
VILLAINES |
1009 km |
43:49 h |
18/08 11:50 |
20.5 km/h |
23 km/h |
MORTAGNE |
1090 km |
47:14 h |
18/08 15:15 |
23.7 km/h |
23 km/h |
Nach Fougeres holt mich eine tolle Gruppe aus vier Fahrern ein. Einer der beiden Dänen ist ein Bär und ich bin mir sicher, mit diesen Jungs problemlos das Ziel erreichen zu können. Aber auf 300 Kilometern kann viel passieren! Bei mir ist das ein gerissener Schaltzug. Wohl der einzige Fehler der Tour ist, dass mir der Anschluss zu dieser Gruppe wichtiger ist als meinen Körper im Blick zu haben und mich mit dem technischen Malheur abzufinden. So fahre ich zu lange ohne hintere Schaltung (die ich auf dem drittkleinsten Ritzel arretiere), denn ich will es noch 30 km bis zum nächsten Serviceposten schaffen. Als klar ist, dass es nicht sehr vernünftig ist, die größte Zeit in unpassenden Gängen zu fahren, entscheide ich mich für eine Reparatur. Ich will nicht, dass die anderen warten und schicke sie wieder los. Ich fühle mich so gut, dass ich weiß, dass ich die Zeit locker wieder heraus fahren kann. Beim Zufahren der Lücke von ca. 5 Minuten mache ich dann aber den Fehler zu überziehen. Ich erreiche die Mitstreiter zwar problemlos noch vor der Kontrolle in Villaines, aber vor allem das kräftezehrende Schnellfahren bergauf sollte sich in Kürze rächen.
Die vorletzte Etappe wird dann doch wieder zur Quälerei. Schmerzen an den Händen, Füßen und Sitzbeschwerden mischen sich zu müden Muskeln in den Beinen und Oberarmen, die durch das häufige Fahren im Wiegetritt auch schon auf sich aufmerksam machen. Meinen Begleitern, einem Dänen und einem Engländer, scheint es nicht anders zu gehen. Ich weiß es aber nicht, denn wir haben keine Lust miteinander zu reden. Ich interessiere mich nicht mal für die Namen meiner Leidensgenossen, obwohl diese ja auf den Rahmennummern stehen. Ich begnüge mich eigentlich immer nur damit zu erfahren, welcher Nationalität meine Mitstreiter sind. Den Namen des "Engländers mit den Scheibenbremsen" erfahre ich erst Tage später, als er mir freundlicherweise seine Bilder schickt mit der Erlaubnis, sie in meinem Bericht zu verwenden.
Kurz vor der Kontrolle in Mortagne au Perche sind wir wieder eine sehr gute Gruppe unter anderem mit fünf erfahrenen Randonneuren aus San Francisco. Auf einmal läuft es wieder besser. Nun stehe ich vor der Entscheidung, meine überstandene Schwächephase ernst zu nehmen, zu reisen und mich wie geplant in Mortagne zu verpflegen, oder mit den Jungs mitzurasen, die ins Ziel durchfahren wollen. Sie haben sich vorgenommen, dieses um 21 Uhr zu erreichen. In Anbetracht der nicht unwesentlichen 140 km, die noch zu absolvieren sind, entscheide ich mich für die vernünftigere reisende Variante: Eine Pause mit Cola, Bier und hervorragenden Spaghetti Bolognese in einer riesengroßen menschenleeren Halle, die auf den Ansturm der 6000 Radfahrer auf dem Rückweg förmlich wartet.
DREUX |
1165 km |
51:00 h |
18/08 19:01 |
19.9 km/h |
22.8 km/h |
Ich bin mir sicher, dass von hinten bald wieder eine Gruppe kommt. Doch das sollte sich als Trugschluss heraus stellen. Deshalb fahre ich auch die letzten 140 km wieder ganz alleine in meinem Tempo, was nicht unbedingt ein Nachteil sein muss. Nur der Wind, der einige flache Kilometer sehr beschwerlich werden lässt, wäre in einer Gruppe sicher erträglicher. Das letzte Teilstück durch unendlich weite Getreidefelder und klitzekleine Weiler, die jeweils mehr als zehn Kilometer auseinander liegen, ist richtige Fleißarbeit. Auf dem Streckenplan ist das das längste Teilstück: Eine Straße von 32 km Länge, die mit ihrem rauen Asphalt meine Willensstärke bis auf das Äußerste strapaziert. Aber irgendwie schaffe ich es, das Tempo so hoch zu halten, dass mich keine Gruppe einholen kann.
FINISH |
1230 km |
53:49 h |
18/08 21:50 |
23 km/h |
22.8 km/h |
Ich kann es selbst kaum glauben, dass es auf der letzten Etappe, bei der es noch zwei richtig schwere Anstiege zu bewältigen gibt, wieder prima läuft und ich fast wieder unbeschwert rasen kann.
Der Körper ist imstande, nach so langer Zeit immer noch diese Leistung (schätzungsweise durchschnittlich mind. 200 W) zu erzielen und die Energie aus der aufgenommen Nahrung und abgebauten
Köperfetten umzusetzen. Das zeigt doch, wie gut wir Menschen von Natur aus ausgestattet sind. An diesem dritten Abend stelle ich wieder vermehrte Halluzinationen fest. Jedes Verkehrsschild
in der Ferne, jedes der vielen Schilder, die die Strecke markieren, jede Laterne und jeder Strauch am Wegesrand wird in meinem Gehirn erst mal als Randonneur identifiziert. Mal fahrend,
mal liegend, mal an einer Mauer lehnend. Mir scheint es zu gehen wie dem Verdurstenden in der Wüste, der sich in der Fata Morgana die rettende Oase vorstellt. Ein Psychologe würde dieses
Phänomen vielleicht Tagträume nennen. Für mich ist es ein Zeichen dafür, dass es gut ist, dass ich nicht noch eine weitere Nacht auf dem Rad sitzen muss.
Die letzten 10 km mit Tageslicht stellt sich ein heimischer Rennradfahrer, der auch auf einem Wilier-Carbonrad auf einer Trainingstour unterwegs ist, in meine Dienste und bietet mir Windschatten
über die Hügel kurz vor Versailles. Das Finish im Dunkeln erlebe ich wie in Trance und erreiche um 21.50 Uhr das ersehnte Ziel am Velodrome in Saint Quentin. Ich glaube es kaum, dass ich die tolle
Zeit vom letzten Mal um 2,5 Stunden unterboten habe. Dass es diese Saison besonders gut läuft, weiß ich aber schon länger und so denke ich, dass die 54 Stunden für mich die Zeit ist, die das Maximum
meiner Leistungsfähigkeit darstellt. Laut inoffizieller Ergebnisliste (Platz 110 von 6052) gehöre ich damit zu den schnellsten 2% aller Teilnehmer, worüber ich sehr stolz bin. Offiziell ist Paris-Brest-Paris ja kein Rennen,
aber eine Veranstaltung mit Zeitnahme hat ja auch immer den Aspekt des Ehrgeizes. Ich weiß, dass ich aber auch mit 60 Stunden oder mehr zufrieden gewesen wäre, denn es kann ja sehr viel dazwischen kommen.
Etliche meiner Kollegen mussten aus welchen Gründen auch immer abbrechen oder haben deutlich länger gebraucht als das letzte Mal, aber dieses Risiko fährt natürlich auch immer mit.
Ein Video von Paris-Brest-Paris erscheint hier (hoffentlich) in Kürze...